TEXTE

UNCERTAIN DOMESTICITIES
Text von Ina Bierstedt, Terezie Petišková, übersetzt von Bettina Carl, 2025

Die Ausstellung NEJISTÉ DOMOVY - UNCERTAIN DOMESTICITIES im Haus der Kunst der Stadt Brno stellt Werke von 27 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern vor, die überwiegend in Deutschland und der Tschechischen Republik leben. Die formal und medial sehr unterschiedlichen Positionen in NEJISTÉ DOMOVY - UNCERTAIN DOMESTICITIES setzen sich mit Aspekten des Themenfelds Wohnen auseinander.

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Die erste Station des Projekts war das Haus Kunst Mitte in Berlin, ein Ausstellungsort, der als ehemaliges Wohnhaus einen unmittelbaren Bezugsrahmen zu Motiven der Ausstellung bot. Für die zweite Station in der Kunsthalle Brünn wurde die Präsentation der Werke präzise auf die imposanten, historisch vorgeprägten Räumlichkeiten des Gebäudes abgestimmt.

Die Ausstellung bezieht sich auf Franz Xaver Baiers These eines "lebendigen Raums"1, einem erweiterten Konzept von Architektur, das auch Ereignisse und Prozesse mitdenkt, die sich als Spuren in die Materie einschreiben. Dieses Konzept stützt sich auf Gaston Bachelards Text "Poetik des Raumes"2, in dem der Autor das Gefühl eines Zuhauses nicht unbedingt mit einem konkreten Objekt, Umfeld oder Übernachtungsort verbindet, sondern eher mit der Schaffung eines emotionalen Bezugs zu einem Ort oder Kulturraum. So können im besten Fall glückliche Räume entstehen – und bewohnt werden.

Eine weitere, wichtige Quelle der Inspiration für NEJISTÉ DOMOVY - UNCERTAIN DOMESTICITIES ist die explizit feministische Ausstellung Womanhouse der Künstlerinnen Judy Chicago und Miriam Schapiro, die 1972 am California Institute of the Arts stattfand. In dieser bahnbrechenden Installation schufen Schapiro und Chicago zusammen mit ihren Studentinnen ein Environment, das stereotype Frauenrollen thematisierte, übersteigerte und damit auch entlarvte.

Mit der Industrialisierung verfestigte sich die Aufteilung der Lebensbereiche in Räume der Produktion und der Reproduktion. Die Reproduktions- und Hausarbeit wurde nicht in das System der Lohnarbeit eingegliedert. Stattdessen wurde sie gar nicht mehr als Arbeitsleistung anerkannt und als „natürliche“ und damit umsonst zu erledigende Frauentätigkeit definiert: So wurde eine vermeintlich biologisch bedingte Verbindung von "Haus" und "Frau" etabliert.

In der Ausstellung NEJISTÉ DOMOVY - UNCERTAIN DOMESTICITIES beziehen sich einige der Werke auf den Körper als unser intimstes Zuhause. Sie verweisen damit ebenso auf unsere Verletzlichkeit und die existenzielle Verbundenheit mit unserer Lebensumgebung, wie auf das archetypische Bild des Körpers als - vorübergehende - Behausung der Seele. Eine Wohnung ist jedoch nicht immer ein sicherer Ort. Geschlechtsspezifische Gewalt trifft Frauen überwiegend im Privatbereich, also in den Räumen, die ihnen

1 Franz Xaver Baier: Der Raum: Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Verlag Walther König, 2013.
2 Siehe Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, 1957.

eigentlich Schutz und Sicherheit bieten sollten. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde Frauen nur sehr wenig eigener Raum zugestanden. In ihrem Essay „A Room of One´s Own"3 von 1929 analysierte und entlarvte Virginia Woolf die enormen, alltäglichen Benachteiligungen von Frauen. Sie betonte dabei auch die Bedeutung eines eigenen Zimmers, das sie für die Entfaltung eines schöpferischen Geistes für ebenso wichtig hielt, wie finanzielle und intellektuelle Unabhängigkeit.

Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung NEJISTÉ DOMOVY - UNCERTAIN DOMESTICITIES befassen sich mit der komplexen Problematik einer nachhaltigen Bewohnbarkeit der Welt und versuchen, Potenziale der Veränderung aufzuzeigen. Ihre Werke eröffnen ein breites inhaltliches Spektrum: Sie beleuchten sowohl äußere Strukturen, wie das Planen und Bauen, als auch die Sphäre des Intimen, Heimeligen und Heimlichen und bearbeiten dabei die Wechselwirkungen zwischen dem Innen und Außen, dem Privaten und dem Gesellschaftlichen.

Dazu gehören auch traumatische Erfahrungen, die mitunter über Generationen hinweg fortwirken, wie der Verlust des Zuhause-Seins durch Kriege oder Naturkatstrophen und die Traumata von Unterdrückung, Verfolgung, Folter und Exil. Die Trauer über die Unmöglichkeit einer Rückkehr und das Fehlen eines natürlichen Gefühls der Sicherheit und Geborgenheit in einem privaten, vertrauten Raum ist für viele Menschen Lebensrealität.

Das Sich-Einrichten, das (Nicht-)Bleiben-Können oder -Wollen, sowie Heimatlosigkeit, Konzepte des Nomadischen und der Gemeinschaftlichkeit werden in der Ausstellung thematisiert.

Auch die Frage nach Kontrolle und deren Verlust im privaten und öffentlichen Raum wird gestellt. Manche Arbeiten der Ausstellung beziehen sich auf die Geschichte der Architektur, die immer Ausdruck politischer Verhältnisse ist, ebenso wie die Räume, die wir gegenwärtig bewohnen und durchqueren. Politische Konstellationen haben von Beginn an auch die Erscheinung der Brünner Kunsthalle innen und außen mitgeprägt. Die Ausstellungskomposition nimmt darauf Bezug und wird von einem Farbkonzept getragen, das speziell für die Räumlichkeiten des D.U.M. entwickelt wurde.

Wohnen ist für jeden Menschen ein existenzielles Grundbedürfnis. Wir alle können hier mit unseren Erfahrungen anknüpfen und an dem reichhaltigen Erinnerungsreservoir teilhaben, dass die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung aktivieren. Während der 15-wöchigen Laufzeit von NEJISTÉ DOMOVY - UNCERTAIN DOMESTICITIES ergänzt ein umfangreiches Programm an Performances, kommentierten Führungen, Gesprächen und Veranstaltungen im öffentlichen Raum die Ausstellung. Als eine weitere Station von NEJISTÉ DOMOVY - UNCERTAIN DOMESTICITIES ist für 2026 das Museo Bilotti in Rom geplant.

3 Siehe Virginia Woolf, A Room of One's Own, 1929.
4 Siehe Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 2012, S. 46.

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I N A B I E R S T E D T: Was die Farbe verrät
Fragmentarische Gedanken von Harald F. Theiss
Was die Farbe verrät von Harald F. Theiss, 2023

Ich glaube, dass die Kunst eines der besten Mittel zur Bewältigung der Geister der Vergangenheit ist, schrieb die ungarische Kunsthistorikerin und Kritikerin Edit András.Die Vergangenheit ist zeitweise eine stillgelegte Zeit. Mit der Erinnerung konstruieren wir aus dem Speicher der Vergangenheit Bedeutungen für die Gegenwart.

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Wenn wir ihr keine Bedeutung zukommen lassen, vergessen wir das Vergangene. In der deutschen Sprache wird zwischen Gedächtnis und Erinnerung unterschieden. Anders das englische memory oder französische memoire, wo es nur ein Begriff dafür gibt. Diese Eigenheit ermöglicht eine Differenzierung von gespeicherten Material und das Abrufen dieser Inhalte bzw. der Fähigkeit, sich zu erinnern. Formen der Erinnerungen erfüllen nicht nur die Funktion der Wiederherstellung oder gar Versöhnung mit der Vergangenheit, sondern sie ermöglichen die Rekonstruktion eines Moments. Das gilt für das kollektive als auch für das individuelle Gedächtnis. So geschehen bei meinem ersten Besuch im Atelier von Ina Bierstedt mit „Raue Faser 2“ von 2021, in dem sich mittels der Erinnerung ein Zugriff auf Vergangenes im Speicher meines Gedächtnis vollzog bzw. auf diese Zeit, die darin angehalten worden war. Vergleichbar mit dem Betreten einer Ausstellung, in der man neben anderen Lebenswelten immer auch der eigenen begegnet.

Böhmisches Buntglas - Ich erinnere farbiges Licht an unserer Wand. Dieser transparent-schillernde Erinnerungsgegenstand bewegte mich zu einer neuen Serie. Als erstes malte ich dieses grüne Trichterglas, welches wieder zusammengesetzt wurde und diese sehr alte kleine Vase aus Bergkristall, die vermutlich aus Ägypten stammt und eingeschliffene Ornamente von Palmen trägt. Ich begann dann über die Beschäftigung mit diesen Grabungsgegenständen aus dem frühen Mittelalter über Glasherstellung zu forschen. Kunst und Handwerk sind in meiner Familie tief verwurzelt. Ina Bierstedt.

Ina Bierstedt ist 1965 in Salzwedel geboren. Nach ihrer Ausreise aus der DDR studierte sie Bildenden Kunst an der UdK Berlin bei Walter Stöhrer und Katharina Sieverding und am Chelsea College of Arts London. Nach dem Studium gründete sie gemeinsam mit Alena Meier und Bettina Carl die Künstlerinneninitiative CAPRI, mit der internationale Ausstellungsprojekte organisiert werden. Später lehrt sie Malerei an der UdK Berlin und an der Kunsthochschule Kassel, wo sie von 2017-2019 Gastprofessorin war. Inzwischen ist ihr Werk in unzähligen Ausstellungen gezeigt worden und befindet sich in privaten und institutionellen Sammlungen. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Berlin.

Aus ihrer jahrelangen künstlerisch forschenden Beschäftigung mit ihrer Familie und ihrer Herkunft entwickelt Ina Bierstedt einen vielschichtigen kulturellen Referenzraum, der zu einer ganz eignen Lesart über Gedächtnis und Erinnerung geworden ist und dennoch über ihre persönliche Beschäftigung hinausgeht. Künstlerinnen und Künstler entdecken die Wirklichkeit – sie sind so etwas wie die Ausgräber der Gegenwart. Ina Bierstedt nutzt die Malerei als künstlerischen Ausdruck und schafft nicht nur in angedeuteten oder fragmentierten Landschaften oder Innenräumen Bezüge zum Vorhandenen, in denen nicht selten ortsbezogen geschichtliche Zusammenhänge sichtbar werden und die Zeitlichkeit eingeschrieben ist. Ihre Quellen sind Archive, historisches Text- und Bildmaterial, eigene Fotografien und vermutlich auch Reisenotizen. Damit konstruiert Bierstedt eine Art künstlerisches Mindmap und öffnet in der Gegenwart assoziative Denkräume, die sie später in ihren Bildern wie eine Archäologin Schicht für Schicht in einen malerischen Kontext überträgt. Nicht selten bleibt dieser Prozess auf den Bildträgern erkennbar. So liegen in dieser Ausstellung einigen aktuellen Bildern mittelalterliche Glasfunde zugrunde.

Ähnlich wie bei Textilien, einem Werkstoff, der von Bierstedt als bildnerisches Element immer wieder in die Landschaften eingewebt wird, wiederholt als ein art Dach oder Zeltkonstruktion, haben auch Glasobjekte neben dem kulturellen Wert eine persönliche Bedeutung. In ihrer Malerei verknüpft die Künstlerin politische Erfahrungen und persönliche Erinnerungen mit historischen Recherchen. Damit stellt sich die Frage, inwieweit ist eine auf Geschichte und Erinnerung gerichtete Kunst auch Selbstreflexion? Kann das Persönliche auch allgemein sein? Kann womöglich etwas, worüber nicht gesprochen, nicht geschrieben werden kann, vielleicht besser in gemalte Bilder übertragen werden? Welche Erinnerungsformate schlummern auch in unserem Inneren und können sie durch äußere Reize aktiviert werden und auf diese Weise eine Möglichkeit sein, auch unseren Erinnerungshorizont zu erweitern – auf der Suche nach der Wahrheit?

Bierstedt sucht dafür visuelle Formen – eine andere Art, etwas zu bewahren. Es entstehen autofiktionale Konstruktionen, narrative Prozesse der Schichtung und Verdichtung bei der das Verborgene in der Bildfindung eine wesentliche Rolle spielt. Bei Kant heißt es, Erinnerung ist die Kraft des Geistes, der uns ermöglicht, vergangene Erfahrungen zu bewahren und abzurufen. Andere Spuren legt sie mit historischen Glasobjekten aus der Lüneburger Serie als Relikte menschlicher Zivilisation. Auch sie Formen des Bewahrens – die wir hier auf klein- bis mittel formatigen ja fast tafelähnlichen Bildern finden und mit denen sich Bierstedt anlässlich dieser Ausstellung auf die Sammlung des archäologischen Museums in Lüneburg bezieht.

Mit ihrer transparenten Eigenschaft dienten die Glasgefäße in der Vergangenheit auch für unterschiedliche Darstellungen bzw. Inszenierungen der Inhalte. Später in der jüngeren Kunstgeschichte für Ansammlungen von Abfallprodukten als Sozialporträts oder davor wegweisend als Hülle für Luft wie in Duchamps Air de Paris von 1919. Bei Bierstedt sind es Zeichen von der im Material gespeicherten Geschichte und Geschichten. Auf diesen Bildern wirken die farbigen Glasobjekte in oder vor undefinierten Räumen nicht stillgelegt. Es ist das Gedächtnis des Materials, welches an den farbigen Glasoberflächen und je nach Lichtspiel und Perspektiven aus dem Inneren reflektiert. Jenseits des Farbauftrags entstehen Spiegelungen und Reflexionen, die unsere Wahrnehmung beeinflussen - auch für die dargestellte Umgebung und den Raum. Die Bilder werden zur Projektionsfläche - das Sehen und Gesehene weitergedacht. Bierstedt malerischem Interesse gilt mehr den sichtbaren Brüchen und Reparaturen am Äußeren der Gefäße. Sie können als Metapher für verschleierte Inhalte und Bruchstücke unserer Gegenwart betrachtet werden.

Bereits in ihren vergangene Arbeiten erzeugten die dargestellten Lichtverhältnisse durch malerische Hell-dunkel Setzungen ganz eigne fast diffuse bildnerische Stimmungen zwischen hier, dort und anderswo – manchmal verstärkt vom leuchtenden und farbintensiven Malmittel aus temperierter Mischung. Das Bildnarrativ entsteht im Prozess und zeigt den Entstehungsprozess eines Bildes, das Zeitliche – die Schichten und Überlagerungen – um Dinge sichtbar zu machen, sichtbar zu lassen. Gleichzeitig reflektiert die Künstlerin auch die medialen Bedingungen des Mediums. Wie bereits erwähnt, setzen sich die Bilder von Ina Bierstedts aus bereits durch andere Medien überlieferte Versatzstücken zusammen. Es ist oft privates oder gefundenes Bildmaterial. Die Motive wurden mehrmals gesehen: beim Finden gesehen, beim Fotografieren und beim Malen, bevor sie als Malerei erneut wie hier und jetzt in dieser Ausstellung gesehen werden. Diese Malerei verführt uns zum Rätselraten und Entschlüsseln verborgener Bezugnahmen trotz vertrauter Motive. Vielleicht können sie als eine Art Sehnsuchtsbilder betrachtet werden, in denen wir uns verlieren und später in den eigenen inneren Landschaftsbildern wiederfinden.

Und was die Farben verraten – darüber kann weiter spekuliert werden ….

© Harald F. Theiss, 2023

↑top PDF Was die Farbe verrät


Zeigen und Verbergen
Zu den neueren Arbeiten von Ina Bierstedt
Claudia Beelitz, 2021

Seit fast zwanzig Jahren widmet sich Ina Bierstedt in ihrer Malerei der Natur und der Landschaft. Dabei reflektiert sie nicht nur die Landschaftsmalerei in ihrer künstlerischen und kunsthistorischen Bedeutung, sondern auch die medialen Bedingungen, die mit künstlerischen Auseinandersetzungen heute untrennbar verbunden sind. Ina Bierstedt arbeitet auf der Grundlage eines Archivs, das eigene Fotografien und mediale Bilder umfasst.

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Nie sind ihre Bilder narrativ im Sinne von verknüpfenden, temporal strukturierten Erzählungen, vielmehr greift Bierstedt Momente von Natur, aber auch Architekturfragmente wie Dächer, Bühnen und Treppen sowie Zelte auf, verschiebt Größenverhältnisse und Perspektiven, um dissonante Kontexte und Wahrnehmungsebenen aufeinandertreffen zu lassen. Dabei durchzieht Bierstedts Werk ein Wechselspiel von Zeigen und Verbergen. In ihren neueren Arbeiten zeigt sich diese Ambivalenz immer deutlicher und wirkt auch bei Bierstedts Bildern von Innenräumen entscheidend mit.

Tarndecke lautet der Titel eines 2020 entstandenen Bildes. Inmitten einer von Birken geprägten Landschaft schwebt ein semitransparentes Motiv, das als eine Decke oder als eine zeltähnliche Bedachung gelesen werden kann und zugleich mit der von Bäumen geprägten Landschaft unmittelbar verbunden ist. Denn die Decke hinterfängt die Bäume, gibt ihnen eine Bühne, und wird ihrerseits von einer durch Gelb- und Grüntöne gegebenen Landschaft und vom intensiven Blau des Himmels hinterfangen. Die Zweige bilden sich in der Art eines Musters auf der schwebenden Decke ab – in der Art eines Tarnmusters, das Tieren in der Natur Schutz bietet und seit langem zu militärischen Zwecken angeeignet wird. Ina Bierstedt geht diesem Zusammenhang in den letzten Jahren immer wieder auf die Spur, indem sie, wie in den Bildern Zebras (2019) oder Wild (2019), Muster und Tarnungen augenzwinkernd auf ungrundierten Tarnstoffen zeigt.

Dem Tarnen stellt Ina Bierstedt in vielen ihrer Arbeiten das ostentative Zeigen entgegen. Im Bild Landschaft mit Faltschiff (2020) schwebt ein gemaltes und zugleich papieren wirkendes Faltobjekt – ein Boot oder eher ein Hut oder ein Zelt? – leicht aus der Bildmitte gerückt in einer von Blau-, Grün- und Gelbtönen geprägten Landschaft. Heftig aufgetragene Farben erzeugen Bewegung und räumliche Tiefe, Übermalungen lassen insbesondere an den seitlichen Randzonen des Bildes untere Bildschichten mitwirken. Das Faltschiff tritt zum Greifen nah hervor, während die Landschaft als Eruption von Farbe erscheint, die alles Konkret-Referentielle getilgt hat.

Die Ambivalenz von Zeigen und Verbergen kommt bei Ina Bierstedt ganz besonders in ihren zahlreichen Arbeiten mit Zirkuszelten zum Ausdruck. Der Zirkus als Parallelwelt, als Ort der Sensationen, als Bühne für das Unerwartete, auf der die Alltagsgesetze außer Kraft gesetzt scheinen, hat Künstlerinnen und Künstler seit langem inspiriert – von Alexander Calder über Charly Chaplin bis zu Cindy Sherman und vielen anderen. Nicht das Erzählerische, nicht die Maskerade oder die Zähmung der Natur allerdings sind für Ina Bierstedt von Interesse. Sie reduziert den Zirkus auf die Urform des Zeltes und verweist auf eine dem Alltäglichen entrückte Welt. Das exzessive Zeigen und Vorführen, wofür der Zirkus steht, wird in Bierstedts Malerei mit dem Strichtarn als Bildgrund oder vor einer Farblandschaft präsentiert. Im Bild Zelt (2018) beispielsweise gehen der Strichtarn des Bildgrundes und das Streifenmuster des Zeltes eine merkwürdige Verbindung ein, obgleich sie doch für so unterschiedliche Aufmerksamkeitsgrade stehen. Schild und Schimäre (2019) zeigt ein Zirkuszelt aus der Vogelperspektive, das im Bild zu einem panzerähnlichen Schutzschild mutiert.

Ina Bierstedt hat die in ihren Arbeiten immer schon angelegte Dialektik von Zeigen und Verbergen in einigen ihrer Arbeiten der letzten Jahre auf eine neue Ebene transponiert; sie wendet sich verstärkt zeitgeschichtlich-historischen Kontexten zu, was mit einer Wendung von der Landschaft zum Innenraum einhergeht. Erstmals widmet sie sich dem Innenraum im Rahmen ihres Projekts „Verspiegelte Fenster“ (seit 2015). Dieses medial mehrschichtig angelegte Projekt basiert auf dem Nachlass ihres Vaters Wolfgang Bierstedt, der zu DDR-Zeiten jenseits der offiziellen Kultur künstlerisch tätig war und seine Arbeiten deshalb nur selten und im halböffentlichen Rahmen zeigen konnte. Ina Bierstedt legt hier neben Gemälden und grafischen Arbeiten ihres Vaters auch Fotos und schriftliche Dokumente zugrunde. Das Bild Lichtverhältnisse (2014) geht auf ein Foto von einer Ausstellung Wolfgang Bierstedts und einen schriftlichen Kommentar ihres Vaters zu eben jenem Foto zurück. Gezeigt ist eine Wand mit passepartourierten Arbeiten, ohne dass die Arbeiten Wolfgang Bierstedts erkennbar werden; sie sind durch unruhige malerische Hell-Dunkel-Setzungen verschleiert. Mit Licht und Farbe und durch den dokumentierten Kommentar ihres Vaters zur zugrundeliegenden Fotografie wirft Ina Bierstedt hier jene Fragen auf, mit denen sie sich in ihrer Malerei schon immer auseinandersetzt. Zugleich verbindet sie dies mit der Frage nach den kulturpolitischen Möglichkeiten, Kunst öffentlich zu zeigen und zur Diskussion zu stellen. Denn die dichte Reihung der Arbeiten, die fehlende Rahmung und der Verzicht auf nähere Angaben zum Raum deuten auf ein Interesse an Sichtbarmachung, nicht aber auf eine repräsentative Präsentation hin. Eben diese Möglichkeit der Sichtbarkeit blieb den nonkonformen Künstlerinnen und Künstlern in der DDR wie in den anderen Ländern des ehemals sowjetischen Einzugsbereichs verwehrt.

Die Frage nach den Bedingungen, unter denen Kunst gezeigt werden kann, beschäftigt Ina Bierstedt in der Folgezeit weiter. Kurz nach ihrem Projekt „Verspiegelte Fenster“ stößt sie auf den 1993 anlässlich einer opulenten Ausstellung im Folkwang Museum erschienenen Katalog zu den Sammlungen von Sergei Schtschukin und Iwan Morosow. Schtschukin und Morosow verfügten als erfolgreiche russische Textilhändler bereits Ende des 19. Jahrhunderts über beträchtliche Vermögen und hatten zugleich viel Gespür und Begeisterungsfähigkeit für die damals zeitgenössische Kunst. Ab der Jahrhundertwende konzentrierten sich beide auf französische Malerei und besonders Schtschukin pflegte enge Kontakte zu Künstlern wie Sammlern in Westeuropa. Sie stehen damit in der Tradition einer von Peter dem Großen angestoßenen und im 19. Jahrhundert in russischen Intellektuellenkreisen viel und kontrovers diskutierten Orientierung Russlands an westeuropäischer Kultur. Was Schtschukin und Morosow allerdings zu Beginn des 20. Jahrhunderts sammelten, stieß in Moskau auf deutliche Ablehnung und wurde, zum Beispiel im Falle von Matisse, auch in Paris 1910 noch heftig attackiert. Schtschukin ließ sich hiervon nicht beirren, öffnete sein Haus ab 1909 und lud immer wieder Studierende der Akademien zu sich ein, so dass eine junge Generation von Künstlerinnen und Künstlern jenseits des in Russland vorherrschenden konservativen Akademismus Werke von Gauguin, Cézanne, Matisse und zahlreichen weiteren kennenlernen konnte.1 Nach der Oktoberrevolution emigrierten Sergei Schtschukin und Morosow nach Westeuropa, die Sammlungen beider wurden enteignet.2 Die Bedingungen, unter denen Wolfgang Bierstedt zu DDR-Zeiten ausstellen konnte, und die Sammlungspräsentationen von Schtschukin und Morosow waren höchst verschieden: Konnte Wolfgang Bierstedt seine Arbeiten nur im bescheidenen, halboffiziellen Rahmen zeigen, so stehen die repräsentativen Sammlungen der beiden russischen Unternehmer in einem denkbar großen Gegensatz hierzu. Gleichwohl wurden auch Schtschukin und Morosow Opfer politischer Repression.

Bei ihrem Bild Blanche (2016) geht Ina Bierstedt von einer Fotografie des Cézanne-Raums im Hause Iwan Morosows aus, die im oben erwähnten Katalog als kleinformatige Textillustration publiziert wurde. Farblich von Grau-, Blau- und Rot geprägt, ist ein Innenraum gezeigt, den gleißend weißes Licht erschließt. Die Lichtquelle scheint hinter einem Vorhang links der Bildmitte zu liegen, doch die Opazität des Vorhangs lässt kein Fenster erkennen. Nicht das Außenlicht erhellt den Raum, sondern ein bildimmanentes Licht, das vom Vorhang als einem gemalten Farbschleier ausgeht. Das Licht eignet der Farbe und ist an deren Materialität gebunden, was Wolfgang Schöne als Farblicht bezeichnet hat.3
Jenseits des Fensters als Motiv oszilliert Malerei hier zwischen dem Albertischen Fenster und dem Greenbergschen picture plane 4: Albertis fenestra aperta führt, wie Panofsky beschrieben hat, zu einer „Befestigung und Systematisierung der Außenwelt“5 . Nicht das Bild als Fläche und in seiner spezifischen materiellen Beschaffenheit ist also gemeint, sondern eine fiktive Durchsicht, der Blick in eine imaginierte Welt – hier in einen Innenraum. Zugleich allerdings verbirgt dieser Innenraum in Bierstedts Bild Blanche entscheidende Motive: das Fenster hinter dem Vorhang und vor allem die Bilder an der Wand, an deren Stelle, wie schon im Bild Lichtverhältnisse, abstrakte malerische Setzungen treten. Dieses Verbergen geschieht zugunsten einer Aufmerksamkeit für die Malerei: Der Vorhang ist Farbschleier und diverse malerische Passagen im Bild (die rote Farbspur links des Vorhangs oder die unruhig gemalte Einfassung des Kronleuchters) referieren nicht auf Gegenstände im Raum, sondern auf die Malerei selbst. Die Oberfläche des Bildes wird von der Textur des Holzes geprägt; durch mehrfaches Abtragen von Farbe kommt die Holzstruktur in ihrer stumpfen Materialität besonders deutlich zum Ausdruck. Das Bild ist also fenestra aperta und picture plane gleichermaßen:

1 Albert Kostnewitsch, Russische Sammler französischer Kunst. Die Familienclans der Schtschukin und Morosow. In: Kat. Morosow und Schtschukin: die russischen Sammler, Monet bis Picasso, Köln 1993, S. 35-137, hier S. 70f.
2 Ebenda S. 123f.
3 Wolfgang Schöne, Über das Licht in der Malerei (1954), 7. Auflage Berlin 1987, S. 210f.
4 Zwischen diesen beiden Polen beschreibt Saskia C. Quené das Bild „Großer Vorhang“ von Gerhard Richter. Die prägnante Formulierung für das Oszillieren zwischen der Vorstellung des Bildes als Illusion eines Ausschnitts von Welt und die selbstreflexive Konzentration auf die Malerei selbst trifft das Bild „Blanche“ von Ina Bierstedt m.E. im Kern. Vgl. Saskia C. Quené, Malerei deckt zu, Kunst deckt auf. In: Ausst.-Kat. Hinter dem Vorhang. Verhüllung und Enthüllung seit der Renaissance – Von Tizian bis Christo, Museum Kunstpalast Düsseldorf 2017, S. 256.
5 Erwin Panofsky, Perspektive als symbolische Form. (1927) In: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstgeschichte, Berlin 1980, S. 99-204, hier S. 123.

Es zeigt erkennbar einen salonartigen, repräsentativen Raum, verbirgt allerdings das Entscheidende, nämlich die Arbeiten Cézannes an den Wänden, um Malerei losgelöst vom Gegenständlichen in ihrer Materialität und mit den materiellen Bedingungen des Bildträgers zu zeigen.

Weitaus abstrakter ist Ina Bierstedts Bild Gelbes Zimmer (2019). Die Arbeit geht ebenfalls auf ihre Auseinandersetzung mit den Sammlungen von Schtschukin und Morosow zurück und zeigt einen salonartigen Innenraum mit Bildern in dichter Hängung. Eine Figur oder Skulptur nimmt die Raummitte ein und zart angedeutete, quaderähnliche Kompartimente strukturieren gemeinsam mit mattroten Farbspuren die umgebende Leere. Oben im Bild wird ein Deckenspiegel angedeutet, der auf das Repräsentative des Raumes verweist.

Ina Bierstedts Innenräume sind tatsächlich gemalte Innenräume und weniger Interieurs im Sinne einer engen kunsthistorischen Gattungsbestimmung. Wolfgang Kemp hat in seiner gattungspoetischen Studie zum Interieur darauf hingewiesen, dass Kunst nicht Grenzen zieht, „sondern ihre ureigene Aufgabe im Stiften von Zusammenhängen gefunden hat“6 . Ina Bierstedt stiftet mit ihren Innenraumbildern solche künstlerischen Zusammenhänge, indem sie den Innenraum nicht im Sinne des Alltäglichen und Privaten begreift, sondern seine zeitgeschichtlichhistorische Bedeutung und Funktion zeigend und verbergend thematisiert. Sie transformiert medial überlieferte Bilder mit genuin malerischen Mitteln und fragt nach der Sichtbarkeit und Öffentlichkeitswirksamkeit von Kunst. Hier ist der Hinweis von Kemp interessant, dass der Begriff des Privaten in Zusammenhang mit dem Interieur häufig auftritt und nicht selten anachronistisch verwendet wird. Privatus aber, so Kemp, „heißt 'beraubt', was im Hinblick auf die antike Vorrangstellung des öffentlichen Raumes zu verstehen ist“7. Genau diese Beraubung vom Öffentlichen trifft den Ansatz von Ina Bierstedt zentral. Denn private Sammlungen, wie die von Schtschukin und Morosow, sind auch dann noch privat, wenn sie Öffentlichkeit temporär zulassen. Ebenso führen Präsentationen im halboffiziellen Rahmen, wie die von Wolfgang Bierstedt, nicht zu freien öffentlichen Diskursen. Das den Arbeiten von Ina Bierstedt seit langem innewohnende Wechselspiel von Zeigen und Verbergen hat so mit ihren Innenraumbildern eine zeitgeschichtlich-politische Resonanz gefunden.

Claudia Beelitz


6 Wolfgang Kemp, Beziehungsspiele. Versuch einer Gattungspoetik des Interieurs. In: Ausst.-Kat. Innenleben.
Die Kunst des Interieurs von Vermeer bis Kabakov. Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie Frankfurt a.M, Ostfildern-Ruit 1998, S. 17-29, hier S.17.
7 Ebenda S.17.


PDF Claudia Beelitz: Zeigen und Verbergen

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Verspiegelte Fenster Text von Dorothée Bauerle-Willert erschienen 2017 in Katalog Verspiegelte Fenster / Entlegene Ecken

William Wordsworth - Erinnerung
Mit gleichem Recht könnte man ihr einen Pinsel in die Hand drücken,
der hier und da die Konturen aufweicht und dabei manchmal die Wünsche des Herzen übertrifft. Der vergangenes Leid lindert und die Furchen eines anhaltenden Grams glättet lang entschwundenes Glück verfeinert und in noch leuchtenderen Farben ausmalt. Verspiegelte Fenster werfen den Blick zurück. Verspiegelungen sind aber nicht nur ein optisches, sondern auch ein mentales Phänomen, denn jedes erblickte Gegenüber kommt nie alleine ins Bild.

Weiterlesen Alles Gesehene – und so auch die Kunst - ist immer Objekt von parallel mitgesehenen Vorstellungen, von Vergleichen, Erinnerungen, Projektionen und Entrechtungen. Die Tumerehá-Indianer wussten das schon lange und gingen systematisch gegen den Balken im eigenen Auge vor. Ihre Methode den Blick frei zu bekommen, war simpel und raffiniert zugleich: Anstatt beim Schauen zu verharren, wo sie waren, schlüpften sie im Geiste in das betrachtete Gegenüber und nahmen dessen Stadtpunkt ein.1

Dem Eigenleben der Welt unvoreingenommen näher zu kommen ist das, was auch die Kunst schon immer versucht. In diesem Sinne betreibt Ina Bierstedt in ihrer Werk-Serie Verspiegelte Fenster Kunst und Forschung zugleich. Präzise und frei, mit wagemutiger Behutsamkeit widmet sich Ina Bierstedt einer ganz außergewöhnlichen Recherche. Malerei, Installationen und Video-Arbeiten fügen sich zu vielschichtigen Inszenierungen zwischen Tradition und Befreiung aus ebendiesen Bindungen. In ihren Raumanordnungen ergründet die Künstlerin die Möglichkeiten eines unvoreingenommeneren Sehens. Dass sie dabei das Werk ihres Vaters, Wolfgang Bierstedt, in ihre künstlerische Auseinandersetzung einbezieht, hängt auch mit dem Bilderkampf zusammen, den dieser führte. Mit seinen Versuchen, gegen die herrschende DDR-Doktrin anzumalen, ihr ein anderes, ein christlich-moralisches Weltbild entgegen zu setzen, mag er ein Romantiker gewesen sein. Wofür er jedoch exemplarisch steht, ist genau die bei ihm zum Bild gewordene eigene Voreingenommenheit, mit der er die der andern listig und meisterlich bloßlegt. Wie sich die Kunst über diese wichtige, aber doch nur erste Ebene der Auseinandersetzung hinaus treiben lässt, verfolgt Ina Bierstedt mit ihrer Serie, die vielfältige Erinnerungsbilder bearbeitet, die das Eingedenken und Vergessen, Verlieren und Bewahren balanciert. Immer halten wir nur Fransen des gelebten Daseins in Händen, lose, unverknüpft. Vom Jetzt reichen sie zurück, aus der Vergangenheit reichen sie ins Jetzt und weisen zugleich in die Zukunft: „Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert.“2 Vergangenheitsbezug und Zukunftsentwurf stehen in einem dialektischen Verhältnis und gerade das Wieder-holen/Zurückholen eröffnet ein Möglichkeitsfeld der

1 „Schliesslich stellte ich fest, dass der Indianer immer die ihm zugewandte Seite eines Gegenstandes mit hinten bezeichnete, das heißt die Seite, die in dieselbe Richtung wies wie sein eigener Rücken. Er nimmt den Gegenstand, von dem er spricht, sozusagen in sich hinein oder lässt ihn wenigstens neben sich treten.» Ulla Hassenpflug-Baldus: Im Herzen Südamerikas, Berlin 1933, S. 116f.

Freiheit: eine Art spiegelbildliche Ausbreitung der wiederholten Zeit vom Mittelpunkt der Gegenwart aus.

Dieser Doppelbewegung durch Zeit und Welt sind Ina Bierstedts Bildräume gewidmet, die Eigenes und Fremdes, Dokumente, Sprache, Bild zu einem vielstimmigen Ensemble verflechten, das zugleich das vertrackte Verhältnis von Imitation und Imagination, von Nähe und Distanz und das Innen und das Außen der Bilder erkundet und beleuchtet. Vorbeihuschen und Aufblitzen, Stillstellen und Aufsprengen, das sind die Gegensatzpaare, die Walter Benjamin als Erfahrungs- und Behandlungsweisen von Geschichte, von Geschichtsbildern anbietet und diese Erfahrung wird in Ina Bierstedts Konstellationen gleichsam noch einmal erspielt, wobei wie in der Arena des Gedächtnisses die paradoxen und gegenläufigen Bewegungen von flüchtiger und dauerhafter Prägung, von Präsenz und Absenz, von Bewahren und Löschen seltsamerweise in eins fallen. Das eigenwillige Schalten der Erinnerung wird gleichsam anschaulich als komplexes Gewebe, das die passive Wiederherstellung dessen, was war, übersteigt in der Produktion einer neuen Wahrnehmung. Ina Bierstedt inszeniert Schauspiele der Imagination, der schöpferischen Qualität der Erinnerung: Memoria wird hier nicht als Ars, als Technik der Einprägung, sondern als Vis, als Kraft erinnernder Selbsttransformation aufgefasst.

Schon der Titel des Projekts Verspiegelte Fenster bringt unterschiedliche Vorstellungen und Metaphern zusammen, die unser Bilderdenken bis heute prägen. Lange wurde die Kunst als Spiegel der Natur aufgefasst, als Mimesis-Gebot zugleich Ballast und Aufgabe der Kunst. Platon befragt im Staat listig die Spiegelmetaphorik und damit Status und Nutzen der Kunst. Leonardo deutet den Spiegel in einer kühnen Volte nicht mehr als Instrument der Wiedergabe, sondern eher als eines der Anverwandlung. Die Geschichte der Kunst könnte (auch) als andauerndes Antworten auf Platons Verdikt über die künstlerische Nachahmung gelesen werden, als ein Bemühen um einen anderen Status als den der bloßen Wiederspiegelung. Was ist die Kunst - Spiegel oder Lampe? Reflektor oder leuchtender Projektor? Spiegel haben tatsächlich merkwürdige Eigenschaften (die Platon seltsamerweise außer Acht lässt): Zum einen können wir nie leere Spiegel sehen, sozusagen den Spiegel an sich, andererseits sehen wir in ihnen etwas, das uns sonst verborgen bliebe: uns selbst. Der Spiegel ist – wie die Erinnerung - Werkzeug der Selbsterkenntnis, der Selbstenthüllung, er macht deutlich, dass wir eine Innen- und eine Außenseite haben, dass wir, wie jedes Ding, auch Objekt sind, ein Bild für andere - Blick und Gegenblick. Aber auch die Fenster-Metapher Leon-Battista Albertis hat das Denken über Bilder wesentlich geprägt. Hier wird das Bild mit einem Fenster verglichen, weil der Betrachter in beiden Fällen durch ein Medium hindurchschaut, ohne dieses Medium selbst zu thematisieren. Sowohl der Blick auf das Bild wie durch das Fenster richtet die Aufmerksamkeit des Sehenden auf Dinge und Ereignisse, die sich nicht in demselben Raum befinden. Bilder und Fenster ermöglichen Blicke auf etwas anderes als sich selbst. Ina Bierstedt Untersuchungen führen so auch in eine vielfach facettierte Befragung des Mediums Bild hinein. Im Zusammenspiel der unterschiedlichen Elemente ihrer Bildräume erkundet sie ganz frei und neu das Spannungsfeld zwischen Abbild und Bild, zwischen Mimesis und Schöpfung. Zugleich wird das Auftauchen, das Aufrufen, Sehen, Erinnern und Verlöschen von Bildern in komplexer Konfiguration vorgeführt. In ihrer Auseinandersetzung um das Bild, im Zusammenspiel ihrer eigenen diaphanen Malerei – schillernde Reflexion, Farb- und

2 Sören Kierkegaard, Die Wiederholung, München 2005, S. 329

Formereignis - mit den Werken ihres Vaters geschieht etwas, das Heidegger als die „Verwindung der Vergangenheit“ (anstelle von Überwindung) bezeichnet hat, ein Verarbeiten, ein Spielen mit Gegensätzen, im Gegensatz zum Verdrängen oder Verwerfen.3 Zugleich bedenkt sie damit das Ineinander von Kontinuität und Abweichung, von Erneuerung und Permutation. Kunst ist – mit einem Gedanken von Harold Bloom – immer auch eine Familiengeschichte. Geheime Wege verbinden jedes Kunstwerk mit anderen Werken, so wie jede Biographie die Geschichte erzählt, wie man seine Familie erlebt und erlitten hat.4 Jedes Kunstwerk ist neben aller leuchtenden Einzigartigkeit auch einbezogen in eine Genealogie, ist Bearbeitung, Einfluss und Influenza, Überwindung und Verzauberung der Einflüsse. Mit einem Wort von Paul Valéry ist ein geistiges Werk „von Bedeutung, wenn seine Existenz andere Werke bestimmt, hervorruft, ausschließt, seien sie schon geschaffen oder nicht.“5 In Ina Bierstedts bildnerischer Recherche wird Kunst als diese Bewegung im Werden erfahrbar, wenn das Eigenleben der Welt als Potenz und Möglichkeit der Bilder des Vaters unvoreingenommen freigesprengt, verwandelt, in wechselweiser Illumination zu je eigener ästhetischer Lebendigkeit gebracht wird. Jedes Kunstwerk impliziert ein Handeln und eine körperlich-geistige Fähigkeit, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlornes zu ersetzen, zerbrochne Formen aus sich nachzuformen.“6 So wie uns Erinnerungen an die Toten umgeben, so befinden sich auch mannigfache Bilder, wie Schatten, um uns. Wir können sie rufen, verlebendigen, weil jedes Bild seine Existenz auf einer Schwelle führt, zwischen Immaterialität und Materialisierung, zwischen Unsichtbarkeit und Erblickt-Werden, zwischen Tod und Leben.

Man ist verloren, wenn man zu viel Zeit bekommt, an sich zu denken.
Georg Christoph Lichtenberg


Dorothée Bauerle-Willert


3 Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1957, S. 29ff
4 Siehe dazu Harold Bloom, Einfluss-Angst, Frankfurt am Main 1995, S. 83
5 Paul Valéry, Windstriche, Frankfurt am Main 1071, S. 24
6 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, In: ders.
Unzeitgemäße Betrachtungen, Stuttgart 1976, S. 104

PDF Bauerle-Willert: Verspiegelte Fenster

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ZWISCHEN Text von Bettina Carl:Ina Bierstedt: Malerei

Die Augen öffnen, schließen, ein Glas Wasser trinken. Dann wird die Ampel rot: Nach links schauen, nach rechts laufen, schlafen. Um Missverständnissen vorzubeugen: In Ina Bierstedts Malerei gibt es keine Augen, Ampeln oder Gläser, aber bestimmte Geschwindigkeiten des Sehens, die sich hinter dem Sehen entwickeln. Diese gemalten Räume sind Abzweigungen mit Aussichtsflächen auf dem Weg vom Denken zum Körper und zurück. In Farbschichten unterschiedlicher Dichte, zwischen architektonischen und gestischen Strukturen tauchen vereinzelt figürliche Elemente auf, die wenig vorführen, eher zitieren. Das Landschaftliche in Ina Bierstedts Bildern scheint sich zu bewegen, kurz vor oder kurz nach einem gedachten Raum ersteinmal zu zögern . Abwarten, was als nächstes passiert, vielleicht sehen wir dann weiter? ©Bettina Carl, 2004


KEINE TRÄUMEREIEN Text von Christine Humpl von 2008, erschienen im Katalog "second" ©Christine Humpl, 2008
Ina Bierstedts Malerei der letzten Jahre ist ruhiger geworden. Kaum sind mehr schablonenartige menschliche und tierische Versatzstücke sichtbar. Natur und Architektur dominieren – oftmals in einem sich gegenseitig akzeptierenden Nebeneinander ...mehr


DIE GROSSEN UNGELÖSTEN FÄLLE Text von Bettina Carl von 2007, erschienen im Katalog „Förderkohle“, 2007 und im Katalog "second" © Bettina Carl, 2007
Ina Bierstedt untersucht die poetischen Möglichkeiten einer Malerei, die vom Gegenstand weitgehend befreit ist. Ihre Bilder sind Landschaften, die nicht auf realen oder gemalten Außenräumen beruhen, sondern aus dem Medium selbst entwickelt werden. ...mehr


LANDSCHAFT IM AUGEN-BLICK Text von Melanie Franke von 2005, erschienen in der Broschüre "Ina Bierstedt - Malerei 2002 bis 2005" ©Melanie Franke, 2005
In den Bildern von Ina Bierstedt schweift der Blick in Landschaften, schaut in ferne Himmelsphären, taucht ein in tiefe Tümpel und moorige Seen und gleitet auf spiegelnden Wasserflächen. ...mehr


TEXT VON CHRISTINE HUMPL von 2005, erschienen im Katalog "hotspots", anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum Essl, 2005/2006 ©Christine Humpl, 2005
Die in Berlin lebende Malerin Ina Bierstedt baut aus versatzstückartigen, in den Proportionen verzerrten Motiven, Landschaften aus Acryl und Öl. ...mehr


TEXT VON MACHA ROESINK THE PAINTER OF MODERN LIFE in Museum De Paviljoens, published in brochure of the exhibition, ©Macha Roesink, 2005
When you look at the paintings of Ina Bierstedt, you may experience a 3-D effect. In spite of their small size, these works offer a multitude of perspectives. To the viewer, it sometimes seems as if the background of the landscape has been drawn closer through binoculars, while the foreground is in sharp focus. ...mehr